Online-Petition gegen das Turbo-Abi G8 in NRW

Über ein Vorstandsmitglied meines Sportvereins Teutonia Kleinenbroich erreichte mich heute eine „Rundmail“, die vom Musikschulbezirk Bonn initiiert wurde und sich an einen breiten Empfängerkreis richtet:

Liebe Musik- Sport- und Kulturschaffende,
liebe Schülerinnen und Schüler,
liebe Leiterinnen und Leiter der Musikschulen- und Vereine,
liebe Elternvertreterinnen und Elternvertreter, liebe Großeltern

Was haben diese Gruppen gemeinsam? Sie alle sind potentiell negativ davon betroffen, dass das Land Nordrhein-Westfalen sich wie fast alle deutschen Bundesländer, geprägt vom Schock des schlechten Abschneidens beim ersten internationalen Vergleichstest Pisa, überstürzt und schlecht vorbereitet für die Einführung des Abiturs nach Klasse 12 (auch achtjähriges Gymnasium, kurz G8 oder Gy8) entschieden hat. Für die Wiedergutmachung des Fehlers wirbt die Online-Petition der Siebtklässlerin Merle Ruge aus Dortmund: Turbo-Abi in NRW wieder abschaffen!

Hauptargument für die Einführung des Turbo-Abis war die in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern vergleichsweise lange Dauer der Schulzeit. Inwiefern andere handfeste Interessen wie das der Wirtschaft und der Rentenpolitik an jüngeren Berufseinsteigern die Entscheidung beeinflusst haben sei dahingestellt.

Grundsätzlich muss eine Verkürzung der Schulzeit von Abiturienten ja auch nicht unbedingt falsch sein. Aber der gesunde Menschenverstand würde erwarten, dass sich damit auch eine grundlegende Reform der Unterrichtsinhalte verbindet. Stattdessen war jedoch die Antwort der Kultusministerkonferenz auf die berechtigte Forderung, dass die kürzere Schulzeit nicht zu einer Qualitätsminderung des Abiturs führen dürfe, die folgende (bitte setzen Sie sich an dieser Stelle):

Die Kultusministerkonferenz (KMK) entsprach dem, indem sie die Anzahl der Wochenstunden, die für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife erforderlich sind, unverändert bei insgesamt 265 Wochenstunden beließ, diese aber statt auf 13 nunmehr auf 12 Schuljahre aufteilte.
(Quelle)

Quantität = Qualität? Bei Politikern anscheinend schon – vielleicht erklärt das auch die inflationäre Entwicklung der Parlamentssitze… Wer sich jedoch an seine Schulzeit oder das Studium erinnern kann wird wissen, dass nach einer gewissen Anzahl Stunden einfach keine geistige Arbeit mehr möglich ist. Und jeder, der einen Beruf mit hohen Anforderungen an Konzentration und überwiegender „Kopfarbeit“ ausübt weiß, wie wichtig eine Kompensation durch Bewegung, ergo Sport ist.

Und da kommen wir zum zweiten Problem – die Kinder, die unter G8 an den Gymnasien leiden, stehen nicht nur unter einem nicht kindgerechten Stress. Sie haben deshalb auch keine Zeit mehr für Spiel und Sport, da Ihr Wochenpensum für die Schule das eines Berufstätigen oftmals übersteigt:

Inklusive Hausaufgaben und Klassenarbeitsvorbereitungen hätten die Kinder inzwischen „eine 45- bis 50-Stundenwoche“ zu absolvieren, hat eine baden-württembergische Elterninitiative kürzlich ausgerechnet – „mehr als jeder Tarifvertrag in Deutschland zulässt“. Den Schülern würden durch den G-8-Stress „wichtige Jahre ihrer Kindheit und Jugend gestohlen“.
(Quelle)

Und auch im ebenfalls vorbildlichen Bildungsland Bayern übersteigt das Ausmaß offenbar die Grenzen des Erträglichen:

Auch in Bayern berichten Eltern- und Lehrerverbände von völlig überforderten Kindern, die keine Zeit mehr für Sport oder Spiel hätten. Bei einer Umfrage der Landes-Eltern-Vereinigung an 114 Gymnasien gaben 75 Prozent der Eltern an, das Lernpensum ihrer Kinder belaste den Familienalltag immens.
(Quelle)

Ich kann aus eigener Erfahrung nicht nur die Probleme der Eltern nachvollziehen, sondern auch jenes, welches der Hintergrund der eingangs beschriebenen Rundmail sein dürfte: Da ich bei Teutonia Kleinenbroich mit der Mitgliederverwaltung betraut bin weiß ich aus erster Hand, dass Kündigungen aufgrund der Nichtvereinbarkeit von Schule und Verein massiv zunehmen. Das überrascht die Jugendpsychologen wenig:

„Die verkürzte Schulzeit bedeutet eine ungeheure Anforderung an die Kinder und Jugendlichen, sich extrem zu strukturieren“, sagt sie. Hobbys würden angesichts der engen Taktung des Alltags kaum als Ausgleich, sondern als weitere Termine wahrgenommen. Um den Unterrichtsstoff zu bewältigen und sich auf die vielen Arbeiten vorzubereiten, sei eine anspruchsvolle Zeitkoordination erforderlich, die eher zu einem Erwachsenen- als zu einem Kinderleben passe.
(Quelle)

Ich frage mich mittlerweile, welche Art von Abiturienten wir da heranwachsen sehen? Fettleibige Sozialkrüppel, die ihre Kindheit an das Leistungsdiktat einer Gesellschaft verloren haben, die es ihnen mit einer Unsumme von Schulden dankt? Spielten wirtschaftliche Interessen etwa doch eine größere Rolle als das Ziel einer besseren Bildung?

Dass die Ergebnisse des G8 mit den vermeintlichen Zielen eines Gymnasiums nur bedingt konform gehen findet auch Corinne Geppert, die für die Vereinigung der Elternratsvorsitzenden Hamburger Gymnasien (VEHG) spricht:

Die Zweckorientierung, auf die die Kinder und Jugendlichen trainiert werden, ist nicht nur positiv zu sehen.“ Es gehe um die Frage Bildung versus Ausbildung. „Dem Gymnasium im Humboldtschen Sinne kann es nicht nur darum gehen, die Schüler ausbildungsgerecht zu liefern.
(Quelle)

Sie weist noch auf einen weiteren bedenklichen Nebeneffekt von G8 hin:

Wenn die Schüler dies schaffen wollten, benötigten sie zu Hause und in der Schule ein stabiles und gut strukturiertes Gerüst. „Sobald dieses Gerüst wackelt, wird es schwierig“, sagt Geppert. Die Kinder seien darauf angewiesen, dass ihnen die Eltern zu Hause den Rücken freihielten. „In dieser Hinsicht hat G8 die Verknüpfung von Schulerfolg und sozialer Herkunft eher noch verstärkt; G8 wirkt selektiver als G9.“
(Quelle)

Vor diesem Hintergrund kann ich verstehen, dass Bildungsforscher auch aufgrund der G8-Reform einen Trend zur ehemals wenig populären Gesamtschule beobachten. Bei meinem zweiten Sohn werde ich mir auch im Falle einer uneingeschränkten Empfehlung für das Gymnasium reiflich überlegen, ob diese Schulform tatsächlich die richtige ist. Für ihn, das Kind. Alles andere ist – wenn überhaupt von Relevanz – sekundär.

Update:

Diesen schon älteren Beitrag aus der Zeit habe ich erst jetzt entdeckt – und verlinke hier nur zu gerne, da er mir aus der Seele spricht!

Michael Fehr

Ne echte Nüsser Jong (Baujahr 1972), den es nach einem mehrjährigen Gastspiel in Düsseldorf wieder zurück an den wunderschönen linken Niederrhein nach "Kleenebrook" zog. Verheiratet, 2 Kids. Geek by nature. Über diese Seite bringe ich die Beiträge meines Blogs ins Fediverse. Du kannst ihnen dort folgen und gerne auch kommentieren. Die Kommentare erscheinen nach Freischaltung dann auf meiner Website. Wenn Du mir als Person im Fediverse folgen willst, findest du mich unter @fehrnetzt@nrw.social

8 Antworten

  1. Tanja sagt:

    Ich habe keine Kinder, dafür zwei Neffen. Der Ältere von beiden, aktuell in der 10. Klasse, hat auf dem Gymnasium, hat aus meiner Sicht ganz schön zu kämpfen. Bei allem was sicherlich gelernt werden muss, wo bleibt das Kindsein oder Erwachsenwerden?
    Betrachtet man auch die Hausaufgaben- und Lernzeit, kommt er locker auf eine über 40 Stundenwoche!
    Obwohl beide sehr sportlich sind, wurde ein Zeitgewinn durch Abmelden in jeweilige Sportvereine erreicht. Mitschüler haben dies ebenso gehandhabt. Das besonders Schlimme daran finde ich: das Wirgefühl, Sportgeist und soziales Gemeinschaftsverhalten geht verloren…

    Aus diesem und anderen Gründen ist mein zweiter Neffe auf der Gesamtschule angemeldet worden. In Mülheim gibt es eine, die noch ein anderes Konzept offen hält…

    Wie auch immer: Ich drück Dir die Daumen für die richtige Entscheidung.

  2. Naike sagt:

    Irgendwann kommt jemand auf die Idee, Abitur nach Schuljahr 11 ins Rennen zu bringen. Vielleicht haben die Kinder bis dahin alle Computer in ihre Körper implantiert und werden rund um die Uhr, 24 Std. am Tag, mit Stoff gefüttert.
    Für mich ist das Thema echt keine Diskussion wert, 13 Jahre waren für die meisten Schüler besser und werden es auch hoffentlich bald wieder sein. Danke für den Hinweis auf die Petition!

  3. Christof Konstantinopoulos sagt:

    Mir war Wikipedia als Quelle für die Aussage „gleiche Stundenanzahl bei 12 oder 13 Jahren“ zu unsicher. Daher habe ich auf den Seiten der KMK (www.kmk.org) recherchiert. Dort habe ich das Dokument
    Vereinbarung zur Gestaltung der gymnasialen Oberstufe in der Sekundarstufe II gefunden. Darin steht auf Seite 4:

    Die Dauer der Schulzeit bis zur Erlangung der Allgemeinen Hochschulreife beträgt 12 oder 13 Schuljahre. Dabei ist ein Gesamtstundenvolumen von mindestens 265 Jahreswochenstunden ab der Jahrgangsstufe 5 bis zum Erwerb der Allgemeinen Hochschulreife nachzuweisen.

    Die von mir angezweifelte Aussage ist also doch richtig. Das konnte ich erst gar nicht glauben. Wer kommt nur auf die Idee, dass so etwas funktionieren kann?

    Lernen besteht aus mehr als nur dem Unterricht. Der Stoff muss geübet und widerholt werden. Und wenn nun der gleiche Inhalt in kürzerer Zeit vermittelt wird, dann muss zwangsläufig Zeit zum Üben und Wiederholen verloren gehen. Und genau das versuchen die aktuellen G8 Schüler zu kompensieren, indem Sie auf Vereine und Hobbys verzichten.

    Kinder sind keine kleinen Erwachsenen! Kinder müssen sich entwickeln und dafür benötigen Sie Zeit!

    Christof Konstantinopoulos

  4. Petra sagt:

    Bitte leitet die Petition weiter, wenn ihr die Kinder unterstützen möchtet!!
    Die Unterschriftenaktion lebt nur davon!

    Meine Tochter bereut es schon aufs Gymnasium gegangen zu sein, obwohl sie eine gute Schülerin ist!
    Der Wunsch nach mehr Zeit für Sport und Kindheit ist so groß das sogar Äußerungen kommen, wie sie geht einfach auf eine Realschule!
    Wie wird man doch demotiviert Leistung in der Schule zu bringen?

  5. Stephan sagt:

    Ein sehr empfehlenswerter Zeitungsartikel aus der Zeit online: http://www.zeit.de/2011/22/DOS-G8. Mein Resümee: Wer hat sich das G8 bloß ausgedacht ? Da kann doch alles nicht wahr sein……. .Wer doch noch Gründe für ein G8 kennt, kann mir gern eine E-Mail schreiben. Antwortgarantie!!!

  6. Nicole sagt:

    Selber in der neunten Klasse, kann ich den Aussagen nur zustimmen. Regelmäßig bekommt unsere Klasse zu hören, dass wir nächstes Jahr schon zur Oberstufe gehören würden und unser Benehmen nicht in Ordnung sei. Das Problem ist nur, dass die letzten G9 Schüler ein Jahr länger Zeit hatten, zu lernen, wie man sich als Oberstufenschüler benimmt, seine Zeit einteilt und effektiv lernt.
    Dazu kommt, dass wir immer weniger Zeit haben, da der Lehrplan ungerührt durchgezogen wird, so ist für die nächsten Wochen ist ein Biologie-, Deutsch-, und ein Englischvortrag angesetzt. Morgen schreiben wir eine Lateinarbeit, in zwei Wochen eine Mathearbeit, am selben Tag einen Test in Chemie, der Praktikumsbericht muss auch abgegeben werden und die Deutscharbeit und den Biotest haben wir gerade erst wiederbekommen.
    Zu bedenken ist auch, dass dazu noch Hausaufgaben, Vokabeln, eigenständiges Lernen für Tests/Arbeiten und die Wiederholung nicht verstandenen Stoffes kommen.
    Da ist es nicht verwunderlich, dass über die Hälfte der Klasse seine Hausaufgaben nurnoch bei anderen Schülern abschreibt, da sie entweder keine Motivation mehr haben, oder im Unterricht schlicht und ergreifend nicht mitgekommen sind.
    Zumal es (mag es bei uns ein Ausnahmefall sein) vorkommt, dass die Lehrer oftmals einfach nicht wissen, wie man mit einer Klasse richtig umgeht. Durch Lehrkräfte, die den Stoff nicht richtig erklären können und irgendwann resignieren und einfach fortfahren, fehlt uns in so ziemlich jedem Fach ein halbes Jahr wichtiger Unterricht. Es gibt einige Schüler/Innen, die sich bis heute nicht sicher sind, wohin man das Komma denn jetzt genau setzt. Allein das führt zu einem drastischen Sinken des Notendurchschnitts in jeder Deutscharbeit. Unsere Lehrerin ist jedoch nicht gewillt, das Thema „Rechtschreibung“ noch einmal durchzunehmen, da wir das „jetzt endlich mal verstanden haben“ sollten.
    Kein Wunder, dass sich im Moment Partys und Trinkgelage als Wochenendbeschäftigung immer mehr etablieren. Auf meine eigene Freizeitbeschäftigung, das Reiten, habe ich oftmals keine Lust mehr, da noch so viel zu tun ist, was sich oft noch bis spät in den Abend zieht. Auf einen sofortigen Beginn der Arbeiten wird dann oft einfach drauf gepfiffen wenn man nach Hause kommt, weil einem die Müdigkeit vom vorherigen Tag noch so in den Knochen steckt. Im Unterricht fallen einem dann fast die Augen zu, sodass man daheim schlichtweg nicht die Energie hat, sofort zu lernen, was dass im übrigen auch sinnfrei wäre.
    Das alles führt zu großem Stress der sich wirklich nicht positiv auf uns Schüler auswirken kann. ich selbst zum Beispiel habe deshalb Muskelzuckungen, die zwar nicht weiter störend sind, für die aber der Grund die Schule ist.
    Deshalb frage ich mich, ob das noch normal ist. Ich kenne die schule nicht anders, aber wenn mein Vater davon erzählt, was er in seiner Kindheit mit Freunden Nachmittags unternommen hat, kann ich nur davon träumen. Freizeit, der Begriff wandert immer mehr auf meine Wunschliste, zusammen mit genügend Schlaf und wenig Stress.
    Damit noch einen guten Abend, denn ich werde jetzt weiter meine Vokabeln lernen.

    • Michael Fehr sagt:

      Liebe Nicole,

      danke für Deinen Kommentar. Umso mehr, als es bisher der längste und inhaltlich werthaltigste in Diesem kleinen Blog ist.

      Falls Du ihn nicht kennst, lies Dir doch bitte diesen Brief eines Journalisten an seine Tochter durch.

      http://www.zeit.de/2011/22/DOS-G8

      Er spricht mir aus der Seele. Tut mir leid, dass wir diesen Wahnsinn bisher nicht stoppen und korrigieren konnten.

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